Reportage

Nachsicht mit anderen, aber vor allem mit sich selbst

10.02.2020
von gateway.one
Grafik von Viren

Zu Zeiten der Corona-Quarantäne ist es schwierig, über irgendetwas anderes als die Pandemie zu berichten. Alle Veranstaltungen sind abgesagt, die meisten Büros wie leergefegt. Deshalb besinne ich mich für einmal auf meine beruflichen Wurzeln als Psychologin und schreibe über eine Haltung, die mir beruflich, aber auch privat besonders wichtig ist: die Nachsicht. Nachsicht mit anderen, aber besonders auch mit sich selbst.

Nachsicht wird definiert als verzeihendes Verständnis für Schwächen oder Grenzen. Und mit Schwächen oder Grenzen werden wir momentan täglich konfrontiert. Seien es die diffusen Ängste vor dem Virus, die durch ketzerische Medienberichte noch geschürt werden, sei es das ungewohnte Homeoffice, womöglich kombiniert mit Homeschooling der Kinder, die Mehrbelastung durch besonders geforderte Tätigkeiten im Gesundheitswesen oder Lebensmittelhandel oder einfach nur der Frust, sich nicht mehr so frei wie gewohnt bewegen zu können.

Schwächen und Grenzen

Wir wären gerne cool und abgeklärt und bemerken trotzdem immer wieder, dass wir ängstlich und angespannt sind. Wir würden gerne Zuhause so pflichtbewusst wie im Büro arbeiten und lassen uns trotzdem immer wieder ablenken. Wir wären gerne stark für unsere Mitmenschen und merken gleichzeitig, dass wir müde und erschöpft sind. Wir würden gerne verantwortungsbewusst mit der neuen Lebenssituation umgehen, doch die Verlockung ist gross, sich nicht an die neuen Regeln und Vorschriften zu halten und einfach mal wieder die eigenen Wünsche und Bedürfnisse an erster Stelle zu positionieren.

Verständnis, Mitgefühl und Nachsicht

Hier müssen wir Nachsicht üben. Nachsicht heisst, man hat Mitgefühl, man hat Liebe und man versteht, dass wir Menschen uns zwar bemühen, manchmal jedoch trotzdem an unsere Grenzen kommen und Fehler machen. Nachsicht bedeutet, sich selbst und andere mit Mitgefühl und Liebe zu betrachten. Nachsicht kommt aus Einsicht und auch aus einer gewissen Weisheit heraus. In diesen ungewissen Zeiten dürfen wir uns unsere Ängste nicht übelnehmen. Schlauer ist es, sie mit Zahlen und Fakten zu relativieren. Räumen wir uns ganz bewusst Zeiten ein, zu denen wir im Homeoffice oder an der Arbeit mal einen Moment lang an uns selbst denken und uns etwas Gutes tun. Sei es ein Stückchen Schokolade, ein kleines Workout oder ein Telefonat mit unseren Liebsten. Denn wer im Grundsatz ein verlässlicher Mensch ist, ein Mensch, der vertrauenswürdig ist und seine Versprechen einhält, der hat Nachsicht verdient und darf auf die Nachsicht des Umfelds hoffen.

«Vorsicht ist besser als Nachsicht»

Nachsicht ist momentan sehr wichtig. Allerdings muss man aufpassen, dass Nachsicht nicht zu Trägheit, zu Ungerechtigkeit und Chaos führt. Es braucht auch Konsequenz, Verantwortung und Pflichtbewusstsein – die jedoch immer wieder mit Nachsichtigkeit verbunden werden sollten. Ganz nach dem lateinischen Ausdruck «Pacta sunt servanda», der bedeutet, «Verträge sind einzuhalten, Vereinbarungen sind einzuhalten, das, was man versprochen hat, ist einzuhalten».

Üben, üben, üben…

Nachsichtig wird man nicht von heute auf morgen (auch diesbezüglich ist eine gewisse Nachsicht angezeigt). Man muss sich selbst, seine Gedanken und Handlungen immer und immer wieder hinterfragen und üben, üben, üben… Als erstes braucht es den bewussten Entschluss: «Während der nächsten Woche will ich Nachsicht kultivieren, wachsen lassen, stärker werden lassen. Ich freue mich darauf, in einer Woche ein nachsichtigerer Mensch zu sein.» Daraufhin muss regelmässig geübt werden. Jeden Tag sollte bewusst mindestens eine Handlung ausgeführt werden, die Nachsicht ausdrückt. Ich selbst gönne mir zum Beispiel öfter als sonst ein entspannendes Vollbad und habe meinen Lieblingsmenschen einen Blumenstrauss schicken lassen, um ihnen eine Freude zu machen und gleichzeitig das lokale Kleingewerbe zu stärken. Jetzt ist Kreativität gefragt.

Und last but not least: bleiben Sie gesund!

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