Reportage

Praktikums-Impressionen aus dem Reich der Mitte

01.10.2019
von gateway.one
Kompass gerichtet auf Karriere

Jerome Fietz, Informatik-Lernender der Credit Suisse, hatte die einmalige Gelegenheit, während seiner Berufslehre, organisiert durch Route2China, vier Wochen lang ein Praktikum in Shanghai zu absolvieren. Zurück aus dem Reich der Mitte, erzählt er von seinen Erfahrungen mit der chinesischen Kultur, Sprache, Wirtschaft und Arbeitswelt.

Eine Reise nach Shanghai lässt sich schwer in Worte fassen, denn bei Shanghai handelt es sich um eine der aufregendsten Metropolen der Welt. Hier prallen Ost und West ebenso aufeinander wie Tradition und Innovation – und mittendrin: Jerome Fietz, der eigentlich bei der Credit Suisse als Informatik-Lernender beschäftigt ist, aber diesen Herbst organisiert durch Route2China für vier Wochen in Shanghai ein IT-Praktikum bei der RootAnt Group absolvierte. Voller Enthusiasmus erzählt er von seinen Erlebnissen:

Shanghai: eine Stadt der Superlative

Shanghai ist eine Stadt der Superlative: am Schnellsten, am Grössten, am Aufregendsten… Shanghai gilt gemeinhin als westlichste Stadt der Volksrepublik China. Mit ihren 23 Millionen Einwohnern ist Shanghai die bedeutendste Industriestadt des Landes, mit dem grössten Containerhafen der Welt. Es gibt Einkaufsmeilen mit Luxus-Shoppingtempeln voller internationaler Marken und angesagter Cafés. Der moderne Finanzdistrikt Lujiazui wurde erst vor rund zehn Jahren geschaffen, steckt quasi noch in den Kinderschuhen. Wohin man blickt: Wolkenkratzer, die zu den höchsten der Welt gehören. Tausende von aufstrebenden Jungmanagern, die in den glitzernden Bürotürmen das grosse Geld suchen. In eben so einem Büroturm durfte Jerome Fietz sein Praktikum bestreiten, bis es dann allerdings hiess «Nationaltagswoche (National Day Golden Week) – Büros leer, Belüftung ausgeschaltet». Fietz sah es entspannt: «so konnte ich mir eine Woche lang die einstündige Anfahrtszeit quer durch Shanghai sparen und stattdessen mit den anderen Praktikantinnen und Praktikanten in modernen Co-Working-Spaces und Cafés arbeiten». Er sei sich dabei wie ein richtiger digitaler Nomade vorgekommen, was ihm ehrlich gesagt ganz gut gefallen habe.

Aber Shanghai hat auch ein anderes, traditionell asiatisches Gesicht: keine 100 Meter vom modernen, westlich angehauchten Grossstadtgetümmel entfernt, finden sich schmucke Alleen mit leckeren Garküchen und einer ganzen Reihe gleichartiger Läden. In den Lilongs, den kleinen Gässchen der Altstadt, treffen sich die Bewohner auf einen Grüntee oder ein Bierchen und um Karten, Gobang oder Mahjong zu spielen. Als Fietz das erste Mal in einer traditionellen Garküche war, in welcher kein Mensch Englisch gesprochen hat, war dies eine wahre Herausforderung. Mit Händen, Füssen und Google-Translate bestellte er sich eine Suppe, die schliesslich glücklicherweise lecker schmeckte, von der er jedoch bis heute nicht mit Sicherheit weiss, was genau sie enthielt…

Chinesische Kultur: Schwertschlucken, Feuerspeien und Balanceakte als Jahrtausende alte Tradition

Shanghai ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und ein bedeutendes Kultur- und Bildungszentrum mit zahlreichen Universitäten, Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Theatern und Museen. In der Metropole gibt es tagtäglich Unterhaltungs-Shows mit einer Mischung aus Bodenakrobatik, Jonglierkunst, Zaubervorführungen und Tiernummern. Einige der Kunststücke wie Schwertschlucken, Feuerspeien oder Balanceakte haben eine Jahrtausende alte Tradition und wurden bereits zu Zeiten der Han-Dynastie (206 v.Chr. bis 220 n.Chr.) entwickelt. Museen zeigen umfangreiche Sammlungen chinesischer Kunst (Keramik, Porzellan und Gemälde). Ausserdem gibt es in Shanghai beeindruckende, kunstvoll mit Holzschnitzereien verzierte und üppig vergoldete Tempel, wie der Konfuziustempel oder der buddhistischen Jing’an-Tempel. Auch Jerome Fietz konnte in seiner Freizeit mit seinen Kolleginnen und Kollegen von den üppigen kulturellen Angeboten profitieren: «Kein Tag war langweilig, ich habe jeden Tag viel Spannendes und Neues erlebt und viel gelernt!».

chinesische Kultur

Ein Wiederaufleben des Shanghai Chic der 1930er Jahre liess viele moderne Lokale entstehen. Die Shanghai-Küche bietet viel frischen Fisch, Schalen- und Krustentiere. Charakteristisch ist eine Kochtechnik, die heute in ganz China praktiziert wird: das Rotkochen. Aus einer dunklen Soja-Sauce und Reiswein wird ein Fond bereitet, in dem das Gargut mehrere Stunden köchelt. Jerome Fietz ist von der Vielfalt der chinesischen Küche begeistert. Er habe allerdings gemerkt, dass seine chinesischen Kolleginnen und Kollegen andere Essgewohnheiten hätten als wir Europäer: «Oft assen meine chinesischen Mitarbeitenden lediglich rasch eine Kleinigkeit vor dem Computer; einstündige Mittagspausen im Restaurant waren ihnen fern. Deshalb habe ich diese eher mit den anderen Praktikantinnen und Praktikanten verbracht.» Und manchmal, da gab es dann auch einfach mal eine Pizza; China hin oder her…

Man kann nicht nicht kommunizieren

Man kann nicht nicht kommunizieren – aber manchmal gestaltet sich die Kommunikation schwierig. Obwohl Shanghai eine westlich geprägte Stadt ist, funktioniert die Kommunikation auf Englisch nur bedingt. In Jerome Fietz’ Unternehmen sprachen beispielsweise nur der CEO und einige Mitarbeitende in Führungspositionen Englisch. Bei allen anderen brauchte es Übersetzer/innen, was zwar kein Ding der Unmöglichkeit gewesen, allerdings auf Kosten der Effizienz gegangen sei. Zwar sprachen Fietz und die anderen Praktikantinnen und Praktikanten auch ein paar Brocken Chinesisch, doch damit kamen sie nicht weit. Denn die Chinesische Sprache ist an Komplexität kaum zu übertreffen.
 
Chinesisch gilt als ausgeprägte Tonsprache mit beschränktem Wortschatz. Deshalb müssen im Chinesischen die Wörter mit verschiedenen Tönen versehen werden: hoch, steigend, fallend-steigend, fallend. Im Südosten Chinas werden im Extremfall bis zu 8 Tonhöhen (!) für dasselbe Wort verwendet. Ausserdem gibt es verschiedene «Dialekte», die sich so stark unterscheiden, dass sich die Sprecher mündlich nicht miteinander verständigen können. Schriftlich ist die Verständigung zwischen den Sprechern verschiedener Dialekte zwar möglich, da die chinesische Schrift dialektübergreifend gleich ist, nichts desto trotz ist auch die schriftliche Kommunikation in China eine Herausforderung, denn insgesamt werden im modernen Chinesisch rund verschiedene 11'000 Schriftzeichen verwendet.

Wirtschaft

China wird kommunistisch regiert. Deshalb sei laut Fietz der Alltag durch gewisse Einschränkungen und Kontrollen geprägt. So könne man beispielsweise nicht auf Google zugreifen oder schnell mal etwas auf Wikipedia nachschlagen. Seine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn er ab und an über Whatsapp Fotos geschickt hätte, doch auch das war nicht möglich. Überwachungskameras wohin das Auge reichte und vergleichsweise verschlossene chinesische Gesprächspartner, wenn politische Themen aufs Parkett kamen.

top down shot im Hafen, Containerschiff am beladen

Nichts desto trotz ist die Wirtschaft Shanghais in der letzten Zeit aufgeblüht. Mit Beginn der 1990er Jahre ist von der chinesischen Regierung viel in Shanghai investiert worden, mit dem Ziel, ein neues Wirtschaftszentrum in Ostasien zu schaffen. Im Jahr 1990 wurde die Shanghai Stock Exchange (SSE) gegründet, sie stellt heute die wichtigste Börse auf dem chinesischen Festland dar. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegt Shanghai den 6. Platz. Seit 1991 ist das Wirtschaftswachstum in Shanghai zweistellig. Shanghai ist die einzige Region in China, welche dies erreicht.

Supply Chain Management als neue Herausforderung

Jerome Fietz konnte in Shanghai spannende Erfahrungen im Rahmen der FinTech (Finanztechnologie; technologisch weiterentwickelte Finanzinnovationen) sammeln. Er erlebte den chinesischen Arbeitsalltag hautnah bei der RootAnt Group. Diese Unternehmensgruppe programmiert für verschiedenste Firmen Internet-Plattformen, auf welchen den Zulieferern Finanzspritzen gewährleistet werden. Denn es ist durchaus im Sinne der chinesischen Grossunternehmen, wie z.B. dem Autohersteller «Beijing Auto Works», wenn ihre Zulieferer (z.B. von Autoersatzteilen) flüssig sind und nicht Pleite gehen, die «Supply Chain» lückenlos funktioniert. Jerome Fietz’ Aufgabe war es nun, eine ähnliche Plattform für ein imaginäres Schweizer Unternehmen zu designen und zu programmieren. Seine Kolleginnen, Kollegen und er haben sich schliesslich für einen erfundenen Schweizer Uhrenanbieter entschieden. Die Entwicklung der Plattform sei ein äusserst spannender Prozess gewesen, er habe viel gelernt und sei während der abschliessenden Präsentation äusserst stolz auf sein Team und sich selbst gewesen.

Jerome Fietz

Arbeiten in China? Warum nicht?

Nach diesen spannenden vier Wochen in China, kann sich Jerome Fietz durchaus vorstellen, später einmal für längere Zeit im Land der Mitte zu arbeiten. Vorerst sei er allerdings nicht unglücklich, wieder in die Schweiz zurückkehren zu können: «ein bequemes Bett, ein ruhiges Zimmer und vergleichsweise wenig Verkehr auf den Strassen, diese Vorteile der Schweiz sind nicht von der Hand zu weisen!».

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